Modellstadt feiert Richtfest
In der Hoffnung auf ein besseres Leben strömen in Äthiopien täglich über 1000 Menschen aus dem Umland nach Addis Abeba. Um die Landflucht einzudämmen, entwickeln ETH-Architekten neue Städte für Landbewohner. In der ersten «NESTown» war kürzlich Richtfest.
Äthiopien steht unter Druck. In weniger als dreissig Jahren
hat sich die Bevölkerung des ostafrikanischen Landes auf 91 Millionen Menschen
verdoppelt. Vor allem die Situation in den Städten hat eine kritische Grenze
erreicht. Täglich verlassen Hunderte von Bauern ihr Domizil auf dem Land und
hoffen auf ein besseres Dasein in den Zentren. Die meisten zieht es in die
Hauptstadt Addis Abeba. Dort enden sie meist in selbst gebauten Hütten aus
Plastikfolien, Holzbrettern und Wellblech, ohne sanitäre Versorgung und
Elektrizität, und ohne Arbeitsplatz und Einkommen.
Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern und den Lebensstandard
der Bevölkerung auf dem Land zu verbessern, hat der emeritierte
ETH-Architekturprofessor Franz Oswald mit NESTown Group das Stadtentwicklungsprojekt
«NEST» (New
Energy Self-Sufficient Town) ins Leben gerufen. Es soll beispielhaft zeigen,
wie umwelt- und sozialverträgliche Siedlungen mit hohem Selbstversorgungsgrad
ausserhalb von Addis Abeba aussehen könnten. Das Konzept der «NESTowns» ist
eine Alternative zur gewohnten Form der Urbanisierung. Durch die Verdichtung
von Wissen und Infrastruktur in semi-urbanen Zentren sollen der Landbevölkerung
neue Perspektiven eröffnet werden. Kürzlich feierte die erste NESTown ihr Richtfest.
Die Idee der «Landstadt» ist, dass sie von den Bewohnern
selbst erbaut wird und auf einer vielfältigen und effizient organisierten
Landwirtschaft basiert, inklusive der dazugehörigen Infrastruktur für
Wasserhaushalt und Hygiene. «Ökologie, Energie, Austausch und Bildung gelten
als Antriebskräfte der Stadt», sagt Franz Oswald, der sich seit vielen Jahren
für die Zusammenarbeit zwischen Äthiopien und der Schweiz engagiert. Zudem, so
Oswald, werde eine NESTown genossenschaftlich organisiert.
Feldforschung am Blauen Nil
Die erste, jetzt im Rohbau existierende Stadt heisst BuraNEST und liegt am Tanasee, dem Quellgebiet des Blauen Nil, etwa 350 Kilometer Luftlinie von Addis Abeba entfernt. Sie dient als Modell für hunderte weiterer von der äthiopischen Regierung in den kommenden Jahren geplanten Zentren. Zugleich ist sie ein Forschungsobjekt und wird als solches vom Departement Architektur der ETH mitfinanziert. So fand ein Jahr nach der Grundsteinlegung im Jahre 2010 unter anderem ein Workshop am Singapore-ETH Centre for Global Environmental Sustainability statt.
Im Frühjahr 2012 startete dann der Bau der Stadtanlage von BuraNest – mit Strassen, einer Brücke, einer Baumschule, einem Stadtplatz für gemeinschaftliche Anlässe und der sogenannten Stadtbauhütte oder «Town Factory». Sie dient als Musterbau für eine so genannte «Rain Water Unit»; das ist eine Hauszeile für acht bis 16 Wohneinheiten, auf deren Dachfläche das Regenwasser gesammelt und danach in Zisternen gespeichert wird.
Bevölkerung bestimmt von Anfang an mit
Wichtig, so Oswald, sei, dass bei dem Projekt nicht mehr
allein die Behörden den Weg vorgeben, sondern die Stadtentwicklung von der
Bevölkerung mitgetragen und gleichberechtigt mitgesteuert werde. Dabei würden
traditionelle Werte ebenso berücksichtigt wie neue, aktuelle Ansichten und Gewohnheiten.
«Die grösste Herausforderung war, das Vertrauen der
lokalen Bevölkerung zu gewinnen, zu erhalten und schliesslich das neu gewonnene
Selbstvertrauen zu stützen und nachhaltig weiter zu entwickeln», erklärt der emeritierte
Professor. Dabei sieht er sich und seine Kollegen in der Rolle des Katalysators
und Moderators. Der Erfolg gibt ihm recht: 90 der insgesamt 200 Haushalte von
Close One, das erste Stadtquartier, sind bereits der Genossenschaft
beigetreten, die anlässlich des Richtfestes gegründet wurde. «Das werten wir
als überraschenden, freudigen Erfolg».
Von Seiten der ETH entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen hätten auch die Mitarbeiter von ETH Sustainability, betont Franz Oswald. Die Koordinationsstelle für die Nachhaltigkeitsaktivitäten der Hochschule habe den Austausch zwischen äthiopischen und schweizerischen Studierenden sowie Fakultätsmitgliedern der ETH und der Addis Ababa University erst ermöglicht und damit den nachhaltigen Wissenstransfer zwischen beiden Ländern gefördert. Auf diese Weise leiste die ETH Zürich in Äthiopien einen wesentlichen Beitrag zur Lösung drängender globaler Probleme.
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