Computerisierung des Alltags weit fortgeschritten
Am 8. September beginnt an der ETH Zürich die international bedeutendste Konferenz für Ubiquitäres und Pervasives Computing: «Ubicomp 2013». Wie allgegenwärtig diese Sparte der Informations- und Computertechnologie mittlerweile ist, sagt Professor Friedemann Mattern im Interview mit ETH Life. Der Informatiker hat einiges dazu beigetragen, dass Visionen, die vor 20 Jahren formuliert wurden, in der Zwischenzeit Realität geworden sind. So durchdringt Pervasive Computing heute den Alltag, ohne dass man sich dessen in allen Fällen bewusst ist. Ein Ende der Entwicklung hin zu noch mehr elektronischer Hilfestellung ist laut Mattern nicht abzusehen.
ETH Life: Der Begriff «Ubiquitous Computing» entstand vor rund 20 Jahren. Er nährte
grosse Hoffnungen, schürte aber auch Ängste vor der totalen Entmündigung. Wo
stehen wir heute?
Friedemann Mattern: Das «Ubiquitous Computing» hat von Anfang
an stark mit Visionen gearbeitet, die seinerzeit sehr futuristisch anmuteten. Längst nicht alle wurden mittlerweile realisiert.
Einiges hat sich aber doch konkretisiert, wie etwa schlaue
Assistenzsysteme, die uns heute unter anderem als Apps auf dem Smartphone zur
Verfügung stehen. Solche Assistenzsysteme erträumte man sich vor 15, 20 Jahren.
Dass dies mit Mobiltelefonen gehen würde, die auf das Internet zugreifen, war
seinerzeit allerdings kaum vorstellbar.
Beim Stichwort Ubiquitous Computing
gehen Alarmglocken bezüglich des Datenschutzes und «gläserner Mensch» los. Hat
sich die Einstellung dazu verändert?
Schon vor 30 Jahren hat man
sich grosse Sorgen um Informatisierung und Datenschutz gemacht! Damals ging es
vor allem um die Einführung des PCs am Arbeitsplatz und der damit
einhergehenden Transformation von Arbeitsprozessen, das ist heute fast
vergessen. Was jetzt geschieht, hat natürlich eine andere Dimension erreicht:
Die Informationstechnik wird immer schneller, kleiner und billiger. Die
Sensorik erzeugt automatisch Daten, Kameras können Dinge oder Gesichter immer
besser erkennen. Das wirkt sich viel umfassender auf das tägliche Leben aus.
Inwiefern?
Einerseits ist jetzt auch der
private Bereich direkt betroffen und damit die Privatsphäre potentiell
gefährdet, andererseits ändern wir unsere Gewohnheiten und unser Verhalten, beispielsweise
alleine durch die Tatsache, dass wir Smartphones nutzen: Man macht viel mehr
spontan, muss nicht genau planen, man kann dynamisch auf Situationen reagieren.
Das wird als normal und positiv angesehen. Damit ändert sich aber auch das, was
die Systeme über uns erfahren. Ein erstes Zeichen dafür, dass das Pervasive
Computing sozialen Sprengstoff birgt, war vielleicht Google Streetview. Jetzt
kommt die nächste Welle auf uns zu.
Wie sieht diese aus, was bringt sie mit sich?
Viele der angesprochenen
Assistenzsysteme wollen unser Leben verbessern oder sicherer machen. Damit
diese Systeme dem Nutzer massgeschneiderte Informationen geben können, müssen
sie aber einiges über ihn wissen oder automatisch in Erfahrung bringen. Ein
Beispiel, das an der Konferenz zur Sprache kommt, ist der effiziente Umgang mit
Energie. Kennt man detailliert die Energieverbrauchsdaten eines Haushalts, kann
man sie automatisch mit den Daten eines anderen, gleichartigen Haushalts
vergleichen und analysieren, weshalb der eine so viel mehr Energie braucht als
der andere. Wir können dann automatisch gezielte Tipps bekommen, um effektiv
Energie zu sparen. So etwas, das sehr positiv tönt, greift natürlich – oft
unmerklich – in unsere Privatsphäre ein.
Was, wenn diese Daten in
die falschen Hände geraten?
Die Frage, ob Missbrauch
möglich ist, stellt sich ernsthaft. Beim Ubiquitären Computing entstehen oft grosse
Datenmengen, die zu unserem Nutzen verarbeitet werden. Wenn ein sensorbasiertes
System durch Beobachtung lernt, wann ich typischerweise nach Hause komme, um Heizenergie
zu sparen, ist das gut. Aber was, wenn ein Einbrecher davon erfährt? Klar ist,
dass zukünftige «smarte» Systeme unbedingt sicher und vertrauenswürdig sein
müssen. Einige der oft diskutierten Bedrohungsszenarien halte ich allerdings
für etwas übertrieben. Macht es einen entscheidenden Unterschied, ob meine Verbrauchsdaten
jede Stunde dem Energielieferanten auf einem sicheren Kommunikationskanal mitgeteilt
werden oder ob sie einmal im Monat vom Zähler manuell abgelesen werden? Oder
dass theoretisch der Nachbar vielleicht meinen «smart meter» per WLAN hacken
könnte und so meinen Stromverbrauch erfährt – statt dass er einfach wie bisher
in den Keller geht und dort meinen Zähler abliest?
An der Konferenz wird auch die Google-Datenbrille diskutiert. Wie
gestaltet sich künftig unser Leben, wenn wir jederzeit damit rechnen müssen,
von irgendwem «überwacht» und gefilmt zu werden?
Die Technik der Datenbrille
unterscheidet sich interessanterweise nicht wesentlich von der eines
Smartphones. Da man die Brille aber immer tragen kann, könnten viele sich gestört
fühlen oder zu Recht in ihrer Privatsphäre verletzt sehen. Verbreitet sich die
Technik nach einigen Jahren, möchten die Leute eine solche Brille aber möglicherweise
nicht mehr missen, weil sie ihnen Sicherheit gibt: Bei einem Notfall kann sich
beispielsweise ein Notarzt oder die Polizei in die Brille zuschalten und in
Echtzeit mit den Augen des Trägers quasi sehen, was läuft, ohne selbst vor Ort
zu sein. Oder ich kann alles aufzeichnen. Bei einem Unfall kann ich dann nachweisen,
dass ich unschuldig war, denn ich habe ja den gesamten Ablauf mittels
Live-Stream gespeichert. Wenn die Menschen ein solches Instrument, das quasi
ihre Sinne erweitert und ihnen Sicherheit gibt, als wertvoll empfinden, wird
man es nicht grundsätzlich verbieten können.
Aber was heisst das für
die Gesellschaft oder unser Rechtssystem? Man wird unter Umständen für etwas
zur Rechenschaft gezogen, was bisher ungesühnt oder nicht beweisbar blieb.
Ja, die Kehrseite ist, dass man
eventuell ungewollt auf einem Videostream eines unbekannten Dritten ist. Das
ist allerdings etwas anderes als die staatliche Überwachung öffentlicher Räume durch
Kameras. Wenn in Zukunft die Brille permanent mit dem Netz verbunden ist, dann
kann theoretisch alles, was ich sehe, gespeichert werden. Mit oder ohne
Datenbrille – es zeichnet sich generell ab, dass immer mehr Daten über uns und
Situationen, die wir durchleben, gespeichert, verarbeitet und genutzt werden
können. Das ist zweifellos eine echte Herausforderung für unsere
Gesellschaft!
Wenn die Datenbrille aufzeichnet, wie ich während der Fahrt
unaufmerksam bin und irgendwo reinkrache, dann ist die Beweislage gegen mich.
Ich kann mich nicht mehr durch eine Notlüge herausreden.
Das ist ein wichtiger Punkt. Es
gab bisher zumindest implizit auch ein Recht auf Vergessen. Wenn man nun alles automatisch
dokumentiert hat und exakt abrufen kann, dann können Dinge nicht mehr in
Vergessenheit geraten. Das kann manchmal unmenschlich sein. Ich hoffe, unsere
Gesellschaft und das Rechtssystem werden damit gut umgehen können und das
Humane gegenüber dem Technokratischen in den Vordergrund stellen! Generell
müssen wir uns aber darauf einstellen, dass das Internet zunehmend in die physische
Welt hineindrängt. Das hat gewaltige Konsequenzen – positive wie auch
potentiell negative.
Pervasives Computing
durchdringt schon jetzt vieles. Ist Ihnen die Arbeit noch nicht ausgegangen?
Die Forschung daran hört bestimmt
nicht auf! Einerseits, weil die Implementierung der klassischen Visionen viel
Detailarbeit erfordert. Andererseits bringt die Forschung selbst wieder neue
Visionen auf. Beispiel Datenbrille: Verbindet man diese mit geeigneten
Kommunikationsmitteln, kann beispielsweise ein Buschdoktor in einem Dorf in
Afrika einen weit entfernten Experten hinzuschalten, damit sich dieser
bestimmte Fälle anschaut. Er betrachtet die Patienten also durch die Brille
respektive die Augen des Buschdoktors. Ein solches Assistenzsystem zu
erforschen, hat enormes Potenzial. Eine andere noch zu erforschende Vision sind
«Tele-Autos». In diesem Szenario sitzt der Fahrer nicht mehr im Auto selbst,
sondern jemand lenkt den Wagen von einer Zentrale aus anhand von Kameras. Über
eine Konsole erhält er «force feedback», das sich anfühlt, wie echtes Fahren. Das
ist in technischer Hinsicht kein Science Fiction mehr und könnte für
Taxiunternehmen oder Car Sharing interessant werden.
Was wird uns die Ubicomp 2013 zeigen?
Ein grosses Thema ist, Situationen
automatisch zu erkennen, ohne dass der Mensch die Technik als lästig empfindet.
Für Assistenzsysteme wichtig sind neue Verfahren der Mustererkennung und des
automatischen Lernens. Ein «smartes» System muss die typischen Muster eines
Menschen erkennen, erlernen und abstrahieren können. Das sind schwierige
Aufgaben.
Welche Visionen sind quasi umsetzungsreif?
Man möchte beispielsweise
erreichen, dass sich Menschen in Gebäuden wie einem Flughafen oder einem
Bahnhof via Smartphone auf den Meter genau lokalisieren können, um kontextbezogene
Informationen zu erhalten. Das erfordert ganz neue Techniken. Dieses Thema wird
ebenfalls an der Ubicomp-Konferenz vertreten sein. Ein lang gehegter Traum ist
auch, verlorene Objekte schnell wiederzufinden. Die Lokalisierung von Objekten
ist zwar nichts Neues, denn in der Güterlogistik wird diese Technik schon lange
gebraucht, um festzustellen, wo wertvolle Waren sind. Nur waren diese Systeme
bisher teuer und gross. Die treibende Kraft beim Pervasive Computing ist aber,
dass alles billiger, kleiner und schneller wird. Wenn nun in einigen Jahren ein
Lokalisationsgerät nur noch so gross ist wie ein Stück Würfelzucker, für zehn
Franken im Supermarkt erhältlich ist, sich überdies eigenständig auf einer
Website anmeldet, um auf einer Karte anzuzeigen, wo es sich befindet, dann
werden es die Leute vermutlich für alles mögliche benutzen. Man ahnt, welche
Herausforderungen mit solchen Entwicklungen auf die Gesellschaft zukommen!
Zur Person
Der 58-jährige Friedemann Mattern ist seit 1999 Professor für Informatik an der ETH Zürich. Im Herbst 2002 gründete er zusammen mit Kollegen das Institut für Pervasive Computing. Er befasst sich mit Modellen und Konzepten für verteilte Systeme, Ubiquitous Computing, Sensor-Netzen und der Infrastruktur für das Internet der Dinge.
UbiComp 2013 an der ETH Zürich
Vom 8. bis 12. September 2013 findet an der ETH die «UbiComp 2013» statt. Sie ist aus der Fusion der wichtigsten Veranstaltungen auf diesem Gebiet, unter anderem der 2002 in Zürich initiierten «Pervasive», hervorgegangen und findet nun zum ersten Mal im neuen Format statt. Parallel dazu wird auch eine Konferenz zum Thema «Wearable Computing» durchgeführt. Eröffnet wird UbiComp 2013 mit einer Rede von ETH-Professor Markus Gross, Direktor Disney Research Zurich.
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