Wo Entfaltung beginnt
Er kann keinen Nagel einschlagen, geschweige denn eine Bohrmaschine bedienen. Niemand will mit ihm im Team arbeiten und bei Vorträgen stammelt er bloss herum. Er fühlt sich hilflos und ratlos, nimmt die Realität einen unerwarteten Lauf. Allein in seinen Modellen fühlt er sich wohl und berechnet munter die Energieerhaltung. Unter Vernachlässigung der Reibung. Der «nutzlose Theoretiker», so wie man ihn sich leibhaftig vorstellt, wäre schlichtweg nicht alltagstauglich.
Wer von uns (angehenden) Akademikern ist mit diesem Vorurteil nicht
schon einmal konfrontiert worden? Nun ist auch der Theoretiker
definitionsgemäss eigentlich ein Arbeiter in dem Sinn, dass er eine Theorie
nicht einfach aufstellt, sondern auch an ihr arbeitet. Umgangssprachlich ist der
Begriff aber meistens eher negativ besetzt und bezeichnet eine Person, die mit
handwerklichen Dingen nicht zurechtkommt. Als Mittel zur sozialen Abgrenzung
ist das Klischee so weit verbreitet, dass ihm wohl etwas Wahres zugrunde liegen
muss. Denn in einer mehr oder
weniger ausgeprägten Form gibt es die Theoretiker tatsächlich.
Wenn jemand zum Beispiel sein Studium ganz unauffällig, schön nach Vorschrift und ohne weitere Tätigkeiten ausserhalb des Lehrplanes oder gar der Hochschule durchläuft, so wird er dieses Studium zweifelsohne mit den erforderlichen fachlichen Kompetenzen abschliessen. Alle anderen Kompetenzen, die für Beruf und Alltag auch wichtig sind, dürften dann aber auf Maturitätsniveau verharren. Oder sogar darunter fallen, da die meisten Fähigkeiten gepflegt werden müssen, um sie aufrechtzuerhalten.
«Educating the mind without educating the heart
is no education at all.» Diese im englischsprachigen Raum bekannte Adaption eines
Prinzips, das auf Aristoteles zurückgeht, bringt es auf den Punkt: Wichtig ist
die vielfältige Bildung für Geist und Herz. Handlungskompetenz, Soft Skills, Work-Life-Balance
sind in der Arbeitswelt gross gehandelte Worte; doch werden sie in der
Ausbildung ernst genommen? Selbstentfaltung im Studium ist ein kaum thematisierter
Aspekt, es sei denn, man bemüht sich selber darum.
Die Angebote vonseiten der ETH existieren, sie sind jedoch etwas verstreut: das Sprachenzentrum, das Coaching, das Career Center und je nachdem auch die Pflichtwahlfächer der Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften. Wäre es nicht hilfreicher, alle Angebote unter dem zentralen Aspekt der persönlichen Entwicklung zusammenzufassen? Und die Studenten besser darauf aufmerksam zu machen?
Vielleicht aber hat es auch etwas Gutes, dass ich mir die Mittel, die ich für meine persönliche Entwicklung brauche, selber zusammensuchen muss. Denn erlerne ich damit nicht bereits eine erste neue Fähigkeit? Learning by doing. Die Lektion wirkt so viel besser, als wenn sie mir ein Dozent ziemlich unpersönlich vermittelt. Dass die Zunge an kaltem Metall kleben bleibt, glaubt man auch erst, wenn man selbst in der schmerzhaften Falle sitzt.
Am wichtigsten ist, dass persönliche Entwicklung freiwillig geschieht.
Schliesslich hat jeder Mensch andere Bedürfnisse. Freiheit ermöglicht einen weit
besseren Lerneffekt als Pflicht: Was ist motivierender als eine neue Fähigkeit,
die sich eigener Initiative und selbst gesetzten Zielen verdankt? Sehr gute Voraussetzungen
bieten in dieser Hinsicht die Studierendenorganisationen.
Da man dort auf viele unterschiedliche Weisen freiwillig mithelfen kann, lernt man seine eigenen Interessen besser kennen. Ausserdem gleicht der soziale Faktor das sachliche Studium aus. Man trifft oft auf Studierende aus anderen Semestern und tauscht wertvolle Erfahrungen aus.
Bei den Ingenieur-Studentinnen von LIMES (vgl. Kasten) entdeckte ich
noch etwas anderes: Vorbilder. Die Studentinnen sind durch und durch motiviert
und lassen ihre Ideen nicht auf dem Papier stehen, sondern setzen sie
erfolgreich um. Solche Motivation ist ansteckend. Wir wollen das ingenieurwissenschaftliche
Studium – unser Studium – mitgestalten und bereichern.
Darum haben wir unsere Theorie zur Praxis gemacht und organisieren nun in jedem Semester einen Frauenabend, der immer wieder viel Spass macht. Eine neue Idee ist der Schülerinnentag, an dem wir Kantonsschülerinnen für ein Ingenieurstudium begeistern wollen. Der erste Versuch fand so viel Anklang, dass wir ihn dieses Jahr wiederholen werden. Und so stärkt eine Idee die nächste, bis sie umgesetzt wird.
So hat, um das einleitende Bild aufzunehmen, der Theoretiker die Bohrmaschine in die Hand genommen und er merkt, dass auch dies sich lernen lässt – doch diesmal auf die praktische Art. Als Studentin schliesse ich: Erfahre ich die Freiheit, dass ich die Dinge selber mitgestalten kann, dann erwacht in mir wieder die Kreativität, die in den ersten Semestern des Studiums zuweilen verloren geht. An diesem Punkt beginnt Entfaltung.
Zur Person, LIMES und AMIV
LIMES (Ladies In Mechanical and Electrical Studies) ist eine Kommission des Akademischen Maschinen- und Elektro-Ingenieur Verein (AMIV), welche sich für gegenwärtige und zukünftige Studentinnen der Informationstechnologie und Elektrotechnik sowie Maschinenbau und Verfahrenstechnik engagiert.
Der AMIV wurde 1893 gegründet. Er vertritt als Fachverein die Studierenden der Departemente D-MAVT und D-ITET.
Vanessa Schröder engagiert sich im LIMES. Sie studiert Maschinenbau im Bachelor. Sie wuchs aufgrund ihrer argentinischen und deutschen Abstammung zweisprachig auf, hauptsächlich in der Schweiz. Zudem verbrachte sie ein Austauschjahr in den USA. Schröder spielt in ihrer Freizeit gerne Klavier.
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