Jedes fünfte Kind ist übergewichtig
Forschende der ETH Zürich untersuchen regelmässig, wie viele Kinder in der Schweiz übergewichtig sind. Soeben konnten sie die neusten Zahlen veröffentlichen. Stefanie Murer, die Erstautorin der Studie, erklärt im Interview, was diese konkret bedeuten.
Die ETH Zürich ermittelt mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), wie sich das Gewicht von Kindern in der Schweiz entwickelt. Als 2002 die ersten Resultate präsentiert wurden, ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung: Gegenüber den regionalen Vergleichsdaten aus den 1960er und 1980er Jahren hatte sich die Zahl an übergewichtigen Kindern mehr als verfünffacht. Seither erheben Forscher der ETH Zürich alle fünf Jahre neue Daten. Stefanie Murer und Isabelle Aeberli vom Institut für Lebensmittelwissenschaften, Ernährung und Gesundheit haben die neusten Zahlen analysiert.
Stefanie Murer, Sie haben
rund 3000 Kinder aus 60 verschiedenen Schulen untersucht. Was haben Sie dabei
festgestellt?
2012 waren rund 19 Prozent der untersuchten Kinder
übergewichtig, sieben Prozent davon sogar adipös. Das bedeutet eine leichte
Zunahme gegenüber unserer Untersuchung von 2007, der Anteil ist aber praktisch identisch
mit dem von 2002. Wir hatten natürlich die Hoffnung, dass der leichte Rückgang von
2007 weiter anhält. Dass die Zahlen stabil sind und nicht zunehmen, ist ein Schritt
in die richtige Richtung. Fakt bleibt aber, dass eines von fünf Kindern in der
Schweiz übergewichtig ist. Diese Kinder haben ein höheres Risiko, auch als
Erwachsene übergewichtig zu bleiben und entsprechende Folgekrankheiten zu
entwickeln.
Ab wann ist ein Kind
übergewichtig oder fettleibig?
Bei den Erwachsenen verwendet man den Body-Mass-Index (BMI)
mit bestimmten Grenzwerten um anzugeben, ab wann jemand übergewichtig ist. Bei
Kindern verändert sich die Körperzusammensetzung im Laufe der Entwicklung schnell.
Ein sechsjähriger Junge gilt zum Beispiel bei einem BMI ab 17 als
übergewichtig, bei einem Zehnjährigen liegt der Wert bei 19,25; mit 12 Jahren
gilt ein BMI ab 21 bei Jungen als problematisch. Da wir Kinder in dieser
Altersspanne untersucht haben, ist ein absoluter Grenzwert nicht sinnvoll, aber
wir können Perzentilenkurven einsetzen, ähnlich den Wachstumskurven, welche bei
Kleinkindern verwendet werden. Zusätzlich haben wir Hautfaltenmessungen
durchgeführt, um den Anteil an Körperfett zu bestimmen.
Was sind die Vorteile
bei der Hautfaltenanalyse?
Der BMI unterscheidet nicht zwischen Muskel- und Fettmasse
und sagt auch nichts über die Verteilung im Körper aus. Viele Studien haben
gezeigt, dass das Bauchfett bei Gefäss- und Herzerkrankungen eine grössere
Rolle spielt als die Fettmasse an Armen und Beinen. Bei der Hautfaltenanalyse haben
wir vier Hautfalten an Trizeps, Bizeps, oberhalb des Hüftknochens und unterhalb
des Schulterblattes gemessen. Dabei wird die Hautfalte gegriffen, die Dicke
erfasst und daraus der Körperfettanteil berechnet. Die Methode hat aber auch
Nachteile, weil die Messungen schwierig sind und eine gewisse Ungenauigkeit
aufweisen. Die Kombination von BMI und Hautfaltenmessungen gibt aber einen sehr
guten Überblick.
Was hat sie an den
neusten Zahlen am meisten erstaunt?
Dass sich die Situation in städtischen und ländlichen
Gebieten so unterschiedlich zu entwickeln scheint. 2002 gab es keine
nennenswerten Unterschiede zwischen Stadt und Land, im 2007 waren mehr Kinder
in den Städten übergewichtig, doch in der neusten Studie ist es genau
umgekehrt: Während im urbanen Raum der Anteil an übergewichtigen Kindern um ca.
sieben Prozent abgenommen hat, steigt die Kurve in ländlichen Gebieten eher an.
Haben Sie eine
Erklärung, wie es zu diesen Unterschieden kommt?
Es ist möglich, dass die Präventionskampagnen in den Städten
besser greifen. In vielen Städten gibt es gute und leicht zugängliche Angebote
für übergewichtige Kinder. Zudem deutet vieles darauf hin, dass das Bewusstsein
und die Sensibilisierung der Eltern eine grosse Rolle spielt. Man muss aber
auch beachten, dass wir für unsere Studie lediglich Stichproben gemacht haben.
Wir wissen von anderen Untersuchungen, dass es zwischen einzelnen Quartieren grosse Unterschiede geben
kann.
Gab es noch andere
Auffälligkeiten?
Wir haben festgestellt, dass der Anteil von adipösen Jungen stärker
zugenommen hat als der bei den Mädchen. Konkret sind bei den Jungen fast zwei
Prozent mehr fettleibig als bei den Mädchen. Wir glauben, dass dies mit dem
unterschiedlichen Körperbewusstsein zusammenhängt und auch in der Prävention
berücksichtig werden müsste.
In Ihrer Studie gehen
Sie auch ausführlich auf die Zahlen aus anderen Ländern ein. Wie steht die
Schweiz eigentlich im internationalen Vergleich da?
Natürlich gibt es Länder wie Amerika, wo über 30 Prozent
der Kinder übergewichtig sind. Auch in den südeuropäischen Ländern wie
Griechenland, Spanien oder Portugal liegt der Anteil mit ebenfalls rund 30 Prozent
viel höher als in der Schweiz. In Europa liegt die Schweiz zusammen mit
nordischen Ländern wie Dänemark und Holland eher im unteren Bereich. Zudem kann
man, ähnlich wie in der Schweiz, in vielen anderen Ländern ebenfalls einen Trend
zur Stabilisierung beobachten, jedoch auf unterschiedlichen Niveaus.
Literaturhinweis
Murer SB,
Saarsalu S, Zimmermann MB, Aeberli I: Pediatric adiposity stabilized in
Switzerland between 1999 and 2012. European Journal of Nutrition, 2013, doi: 10.1007/s00394-013-0590-y
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